Wahrheit oder Lüge im Gerichtssaal - Dr. Thomas Schulte

Lügen vor Gericht: ein Leitfaden zur Wahrheitsfindung, von Dr. Thomas Schulte, Rechtsanwalt in Berlin

Beispiel der fleißige Maler und der Zusatzauftrag

Ein fleißiger Maler aus Magdeburg arbeitet für einen Bekannten aus Berlin und streicht die Fassade eines Mietshauses. Weil man sich kennt, werden während der Fassadenüberarbeitung Zusatzaufträge (z.B. Kellermalern) mündlich erteilt. Am Ende werden die Rechnungen nicht bezahlt. Vor dem Landgericht fragt der Richter sich, ob die Zusatzrechnungen berechtigt sind oder nicht. Weil die Beteiligten vorher Freunde waren, haben sie nichts Schriftliches auf der Baustelle vereinbart. Der Maler will die Zusatzarbeiten bezahlt haben, der ehemalige Freund des Malers ist wirklich enttäuscht, weil der Aufwand an Material und Arbeit vergütet werden muss. Über den Preis der Mehrarbeiten haben beide nicht gesprochen. Das ist klar. 

Lösung: Rechtlich ist das kein Problem, weil auch, ohne dass die Streithähne einen Preis vereinbart haben, gilt, dass die übliche Vergütung angemessen ist. Das steht in § 632 Bürgerlichem Gesetzbuch. Aber war es jetzt ein Pauschalauftrag und damit ist alles abgegolten, oder muss die übliche Vergütung jetzt zur Pauschale hinzugerechnet werden?

Nach dem § 286 Zivilprozessordnung soll der Richter nach freier Beweiswürdigung entscheiden

Die Prozessparteien sollen vor Gericht nicht lügen über den Sachverhalt; § 138 Zivilprozessordnung. Entweder lügt hier der Maler oder der Bauherr über die Zusatzarbeiten. Der Richter möchte aber aufgrund der Wahrheit entscheiden.

Das deutsche Rechtssystem basiert auf einem entscheidenden Grundsatz: der Wahrheitsfindung. Doch die Wahrheit ist nicht immer leicht zu erkennen, besonders in Gerichtssälen. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Zeugen bewusst oder unbewusst die Unwahrheit sagen. Für Richter, Anwälte und Betroffene stellt dies eine enorme Herausforderung dar. Wie kann man in einem solchen Szenario die Wahrheit ans Licht bringen? 

Zeugen sind in diesem Beispielfall die Gesellen des Malers. Sie sollen bestätigen, dass ihr Chef mit dem Bauherrn bei der Arbeit zusätzliche Aufträge erteilt hat und nicht vom Pauschalauftrag erfasst war. Wer kennt es nicht, typisch ist zum Beispiel: “Den Keller könnt ihr auch noch malern, oder? Ja, machen wir, musst Du aber bitte zusätzlich Material und Arbeitsleistung bezahlen.” Antwort: in Ordnung. 

Wenn also die Gesellen das so bestätigen können, gewinnt der Maler vermutlich den Prozess. 

Der Bauherr sagt, seine Frau sei bei dem Gespräch dabei gewesen. Der Maler habe gesagt: “Kein Problem, mache Dir so, weil das bisschen Keller hier nun wirklich nicht ins Gewicht fällt. “

Wenn also die Ehefrau diese Version bestätigt, verliert der Maler den Prozess. 

Wenn das Gericht die Wahrheit nicht herausfinden kann, kommt die Beweislastverteilung ins Spiel. Das ist aber ein anderes Thema. In diesem Beitrag (Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zivilprozess) wird die Problematik von Lügen vor Gericht beleuchtet, mit hilfreichen Tipps, um Falschaussagen zu enttarnen und die eigenen Rechte erfolgreich zu verteidigen.

Die Bedeutung von Zeugenaussagen und die Problematik von Lügen:

Zeugenaussagen spielen in vielen Prozessen eine Schlüsselrolle. In zahlreichen Fällen hängt der Ausgang eines Verfahrens stark von dem ab, was Zeugen vor Gericht berichten. Ein Beispiel: In einem Baufall gibt es oft widersprüchliche Darstellungen der Beteiligten. Doch was passiert, wenn diese Zeugen irren oder gar lügen?

Lügen vor Gericht können bewusst oder unbewusst erfolgen. Manche Zeugen haben ein persönliches Interesse am Ausgang des Verfahrens und entscheiden sich daher bewusst, die Wahrheit zu verdrehen. Andere wiederum geben falsche Informationen aufgrund von Unsicherheiten, schlechten Erinnerungen oder fehlerhaften Wahrnehmungen.

Es gibt drei Hauptfaktoren, die die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen beeinflussen können:

  1. Erinnerungsverzerrung: Erinnerungen sind oft fehlerhaft. Mit der Zeit verblassen Details oder werden unbewusst verändert.
  2. Subjektivität der Wahrnehmung: Menschen erleben und interpretieren dieselbe Situation oft unterschiedlich.
  3. Externer Druck: Zeugen können durch äußere Einflüsse – sei es durch Drohungen, Bestechung oder emotionale Bindungen – in ihrer Aussage beeinflusst werden.

Die Schwierigkeit, Lügen zu erkennen

Ein großer Teil der Herausforderung, Lügen vor Gericht zu enttarnen, liegt in der Natur des Menschen. Die Körpersprache eines Zeugen oder die Art, wie er auf Fragen antwortet, können zwar Hinweise auf eine Lüge geben, doch diese Indikatoren sind nicht immer zuverlässig. Es gibt Menschen, die trotz intensiver Beobachtung scheinbar glaubhaft lügen können.  Das Erkennen von Falschaussagen ist komplex, Richter erhalten während ihrer Ausbildung nur begrenzte Schulungen in der Erkennung von Falschaussagen.

Ein weiteres Problem: Manche Lügner sind sehr geschickt darin, ihre Geschichten zu erzählen. Sie erfinden detaillierte Beschreibungen, um glaubwürdig zu wirken. Dies macht es umso schwerer, die Unwahrheit zu entlarven.

Strategien zur Wahrheitsfindung

Trotz dieser Herausforderungen gibt es bewährte Methoden, um Falschaussagen zu entlarven und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Hier einige der effektivsten Ansätze:

  1. Präzise Fragen: Gezielte und gut durchdachte Fragen sind ein mächtiges Werkzeug, um Lügen  zu entlarven. Ein erfahrener Anwalt stellt dem Zeugen Fragen, die auf Details abzielen und oft inkonsistente Antworten hervorrufen. Wenn ein Zeuge lügt, fällt es ihm schwer, eine falsche Geschichte konsistent zu halten.

Beispiel: Ein Zeuge behauptet, einen Unfall gesehen zu haben. Der Anwalt könnte ihn fragen: „Welches Wetter herrschte bei dem Gespräch?“, oder „Wie weit entfernt standen Sie beim Gespräch?“ Solche Fragen können Lügner leicht aus der Fassung bringen.

  1. Offene Fragen: Offene Fragen wie „Was genau ist passiert?“ geben dem Zeugen Raum, ohne Beeinflussung zu antworten. Geschlossene oder suggestive Fragen dagegen können zu gewünschten oder verfälschten Antworten führen.
  2. „W“Fragen: Wer, Wie, Wo, Warum und Weshalb? Diese Fragen führen zu detaillierteren Erzählungen. Je mehr Details ein Zeuge angibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Unstimmigkeiten in einer falschen Aussage auffallen.
  3. Situationsbezogene Fragen: Eine überraschende Frage zu einem scheinbar unwichtigen Detail kann Lügner in Schwierigkeiten bringen. Wenn jemand wirklich eine Situation erlebt hat, kann er meist problemlos auch unerwartete Fragen beantworten. Lügner jedoch haben oft keine „echten Erinnerungen“ an bestimmte Details.

Aussagepsychologie als Hilfsmittel

Die Aussagepsychologie bietet einen wissenschaftlichen Ansatz zur Bewertung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen. Hierbei wird untersucht, wie konsistent und plausibel eine Aussage ist und ob sie ausreichend detailliert ist, um auf einer echten Erinnerung zu basieren. In komplexen Fällen ziehen Gerichte häufig psychologische Gutachter hinzu, um die Zuverlässigkeit von Aussagen zu überprüfen.

Was können Betroffene tun?

Für Personen, die vor Gericht falschen Aussagen gegenüberstehen, gibt es verschiedene Strategien, um sich zu schützen.

Gründliche Vorbereitung: Wer sich selbst auf ein Gerichtsverfahren vorbereitet, sollte möglichst viele Beweise sammeln und sicherstellen, dass die eigenen Aussagen klar und konsistent sind.

Rechtliche Unterstützung suchen: Ein erfahrener Anwalt ist unerlässlich, wenn es darum geht, Falschaussagen zu enttarnen und den eigenen Standpunkt zu vertreten.

Geduldig bleiben: Gerichtsverfahren können sich lange hinziehen. Es ist wichtig, Ruhe zu bewahren und darauf zu vertrauen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Fazit

Lügen vor Gericht stellen eine große Herausforderung für das Justizsystem dar. Doch durch geschicktes Fragen, die Anwendung der Aussagepsychologie und die Unterstützung eines erfahrenen Anwalts können Falschaussagen entlarvt werden. Jeder, der von Falschaussagen betroffen ist, sollte nicht zögern, seine Rechte zu verteidigen und alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Nichts ist schlimmer für den Rechtsstaat als Ungerechtigkeiten durch falsche Urteile. 

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 9584 vom 25. Oktober 2024 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich