Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat der Studentenschaft der Freien Universität Berlin am 15. Januar 2004 untersagt, allgemeinpolitische Tätigkeiten ohne konkreten Hochschulbezug auszuüben (Az. OVG 8 S 133/02). Für jede Zuwiderhandlung droht der Studentenschaft ein Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 Euro. Damit war der Antrag eines von der Anwaltskanzlei Dr. Thomas Schulte vertretenen Studenten auch in der II. Instanz erfolgreich (Vorinstanz: Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 16. Mai 2002, Az. VG 2 A 21/02). Erstmals hat damit ein Verwaltungsgericht eine Entscheidung unter der Geltung des neuen Hochschulrahmengesetzes getroffen (6. HRG-Novelle). Der Bundesgesetzgeber hatte während des laufenden Gerichtsverfahren den Aufgabenbereich von zwangsverfassten Studentenschaften erheblich ausgeweitet und die Länder dazu verpflichtet, innerhalb von drei Jahren an allen staatlichen Universitäten in Deutschland derartige Vertretungsorgane zu installieren. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Berlin macht demgegenüber deutlich, dass Versuche des Gesetzgebers, die Kompetenzen von Studentenschaften bis an das verfassungsrechtlich zulässige oder darüber hinaus auszudehnen, von den Verwaltungsgerichten nicht mitgetragen werden.
Als Studentenschaften bezeichnet man an den Universitäten per Gesetz installierte Vertretungsorgane der Studenten, deren Mitgliedschaft zwangsweise vorgeschrieben ist. Es gibt sie derzeit nur in 13 von 16 Bundesländern. In Europa ist diese spezifische deutsche Form der „Zwangsinteressenvertretung“ ohnehin ein Unikum. Der Haushalt dieser Zwangsverbände speist sich aus den Pflichtbeiträgen aller Studenten (das Haushaltsvolumen liegt allein an der Freien Universität Berlin bei etwa 570.000,00 Euro jährlich). Dabei ist das Interesse der Studenten an dieser vom Gesetzgeber eingerichteten „Zwangsinteressenvertretung“ äußerst gering. Die Wahlbeteiligung zu den Studentenschaftswahlen liegt bei der übergroßen Mehrzahl der Studentenschaften selten über 15%. Die so gebildeten Studentenschaften nehmen häufig für sich in Anspruch im Namen ihrer Mitglieder auch mit allgemeinpolitischen Forderungen an die Öffentlichkeit zu treten, unabhängig davon, ob die Studenten mit solchen Forderungen einverstanden sind oder nicht.
Was hat sich konkret in Berlin zugetragen?
Die Berliner Studentenschaften werden von dem Allgemeinen Studentenausschuss (kurz: AStA) gesetzlich vertreten. Deren unzulässige Tätigkeit flog auf, als der Berliner Landesrechnungshof an vier Universitäten Haushaltsprüfungen vornahm, die sich im Jahresbericht 2001 als haushaltsrechtliche Missstände nachlesen lassen. „Wer einmal den Jahresbericht des Landesrechnungshofes studiert hat, kann zu der Überzeugung gelangen, dass staatlich erzwungene Mitgliedschaftsbeiträge im AStA nahezu parasitäre Verwaltungsapparate wuchern lassen, in denen die Verteilung der Pfründe unter Genossen einen hohen Stellenwert besitzt“, äußerte sich der von uns vertretene Student, der an der Freien Universität Rechtswissenschaft und Geschichte studiert. Auch die regionale und überregionale Presse berichtete sowohl zu den Prüfungen des Landesrechungshofes, als auch zu den Vorwürfen gegen den AStA (etwa: BerlinOnline vom 25. Mai 2001 „Das Kapital der Antikapitalisten“, Berliner Morgenpost vom 29. Mai 2001 „ASten „verschenken“ Studentengelder“, DIE WELT vom 12. Januar 2001 „Beim AStA an der FU sind Gelder verschwunden“).
Bereits der Landesrechnungshof beanstandete für das Haushaltsjahr 1998/1999 die Unterstützung eines Vereins mit dem Namen „Antirassistische Initiative e.V.“ mit 12.000,00 DM. Anstatt diese Zahlungen nun einzustellen, wurde dieser Verein sogar noch in den Jahren 2001 und 2002 mit der jeweils gleichen Summe illegal unterstützt. Außerdem beanstandete das Oberverwaltungsgericht die Mitfinanzierung eines Kongresses in Hamburg gegen das geltende Asylrecht, den Aufruf zu einer Demonstration, die sich gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan richtete und die illegale Unterstützung zahlreicher anderer politischer Projekte Dritter mit Geldzuwendungen aus dem Haushalt der Studentenschaft. Bereits vom Verwaltungsgericht Berlin wurde zuvor beanstandet, dass der Boykottaufruf eines Lebensmittelkonzerns (Néstle) nicht zu den gesetzlichen Aufgaben einer Studentenschaft zählt. „Für diese Forderungen, Stellungnahmen und Geldzuwendungen gibt es überhaupt keinen Konsens im Meinungsspektrum von immerhin 42.000 Studenten an der Freien Universität Berlin“, so der von uns vertretene Kläger.
Bei dem Versuch die Kompetenzen der Studentenschaften per Gesetz auszuweiten und das allgemeinpolitische Mandat hoffähig zu machen, handelt es sich um ein politisches Prestigeprojekt. Seit dem Jahre 2000 tritt dafür ein bundesweites „Bündnis für Politik und Meinungsfreiheit“ mit Sitz in Berlin ein, dass sich nach eigener Auskunft für die Einführung des allgemeinpolitischen Mandats der Studentenschaften einsetzt. Der Bundesgesetzgeber hat durch die 6. Novelle des Hochschulrahmengesetzes den Ländern aufgegeben, den Aufgabenbereich der Interessenvertretung innerhalb von drei Jahren massiv zu erweitern. Gegen diese bundesweite Neuregelung wehren sich derzeit die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt im Rahmen einer Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Aus unmittelbarem Anlass eines von einer Gruppe von Studenten gegen die Studentenschaft der Humboldt Universität Berlin am 15. Juli 2002 erwirkten Urteils mit einem ähnlichen Untersagungstenor, verkündete der Berliner Wissenschaftssenator Dr. Thomas Flierl (PDS) in einer Pressemitteilung vom 17. Juli 2003 (abrufbar im Internet):
„[…] Unabhängig von den langjährigen Auseinandersetzungen um ein allgemeinpolitisches Mandat werde ich dieses Urteil zum Anlass nehmen, mit der für 2003 anstehenden großen Novelle des Berliner Hochschulgesetzes Rahmenbedingungen zu schaffen, die derartige Prozesse in der Zukunft vermeiden helfen. […]“
Eigentlich obliegt dem Wissenschaftssenator die Rechtsaufsicht gegenüber den Berliner Studentenschaften. Anstatt die bereits in den Prüfberichten des Landesrechnungshofes beanstandeten Missstände abzustellen, versuchte der Senator offenbar die unzulässige Verwaltungspraxis einfach auf eine gesetzlich zulässige Grundlage zu stellen und damit rechtlich zu legitimieren. Doch was ist das für ein Rechtsverständnis, Studenten das Recht abzusprechen, sich gegen Rechtsverletzungen ihres Verbandes, in dem sie zwangsweise Mitglied sein müssen, zu wehren? In derartigen Fällen geht es um einen Grundrechtseingriff in die Individualrechte von Bürgern, die selber entscheiden können (und wollen), in welchem Verband sie Mitglied sein und Beiträge zahlen möchten oder auch nicht. Die Ankündigung des PDS-Senators hat der Berliner Landesgesetzgeber durch eine Gesetzesänderung am 13. Februar 2003 tatsächlich in die Tat umgesetzt. Nach dem neuen Berliner Hochschulgesetz sollen Studentenschaften künftig auch zu solchen Fragen Stellung beziehen, die sich allgemein „mit der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der Abschätzung ihrer Folgen für die Gesellschaft und der Natur“ beschäftigen. In § 18 Abs. 2 Satz 5 des Berliner Hochschulgesetzes ist die Befugnis enthalten, in Medien aller Art „die Diskussion allgemeiner gesellschaftlicher Fragen“ zu eröffnen. Diese Gesetzesänderung war nun Grundlage der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes Berlin vom 15. Januar 2004.
Das bereits im Juli 2002 angekündigte Projekt des Senators der PDS ist nun vor Gericht rechtskräftig gescheitert: Das Gericht gab dem von uns vertretenen Berliner Studenten gegen die Studentenschaft der Freien Universität Berlin nämlich ausdrücklich Recht und untersagte der Studentenschaft gegen Ordnungsgeldandrohung weiterhin jede allgemeinpolitische Tätigkeit ohne konkreten Hochschulbezug. Selbst die neue Gesetzeslage ändert daran grundsätzlich nichts. Verfassungsrecht hat eben Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht. Das Oberverwaltungsgericht sieht in der Einrichtung einer Zwangskörperschaft einen Eingriff in das Grundrecht der Studenten aus Art. 2 Abs. 1 GG. Dieser Eingriff lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn der Verband darauf beschränkt bleibt, die Studenten nur in ihrer Rolle als Studenten zu vertreten. Ohne Austrittsmöglichkeit kommt die Wahrnehmung von allgemeinpolitischen Stellungnahmen, Erklärungen und Forderungen nicht in Betracht. § 18 Abs. 2 BerlHG ist zwar weiterhin in Kraft, jedoch dürfte diese Regelung von den Gerichten grundsätzlich nur noch verfassungskonform ausgelegt werden.
Interessant ist, dass diesem Streitfall bereits andere Entscheidungen vorausgegangen sind. Schon am 22. Januar 1998 erging gegen die Studentenschaft der Freien Universität ein ähnlicher Beschluss des Verwaltungsgerichtes Berlin (Az. VG 2 A 230/97). Auch zu dieser Zeit wehrten sich Studenten gegen die Verwendung ihrer Beiträge für allgemeinpolitische Projekte im universitätsfremden Bereich. Trotzdem hielt sich der AStA nicht an das gerichtlich auferlegte Gebot. Zwei Ordnungsgelder in Höhe von 5.000 DM (VG Berlin – Az. VG.2.A.75/98) und 10.000 DM (VG Berlin – Az. VG.2.A.133/98) wurden festgesetzt.
Im Ergebnis machen diese Gerichtsentscheidungen auch ein Versagen der Rechtsaufsicht deutlich. Es wäre Aufgabe der zuständigen Universitätsleitung und der für Hochschulen zuständigen Senatsverwaltung gewesen, gegen die bekannten Missstände vorzugehen. Interne Prüfberichte des Landesrechnungshofes liegen den Rechtsaufsichtsorganen seit Jahren vor. Doch den stimmigen Beweis für das Versagen der Rechtsaufsicht, bietet die vorliegende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes selbst: Würde die Rechtaufsicht funktionieren, hätte unser Mandant keinen Erfolg vor Gericht haben dürfen. So bleibt den betroffenen Studenten vielfach nur, sich gegen die bekannten Missstände selbst zur Wehr zu setzen.