Valentin Schulte / Law firm Dr. Schulte

Überraschungsurteile sind verboten! Das Tal der Tränen vor Gericht?

Überraschungsurteile – von Dr. Thomas Schulte und Valentin Schulte, Berlin Bei Gerichtsverfahren gelten feste Regeln. An diese Prozessregeln müssen sich Richterschaft und Rechtsanwälte halten. Im sogenannten Zivilprozess gilt seit dem 1. Oktober 1879 die gute alte Zivilprozessordnung. Diese Regeln sollen erklärt werden an dem Fall von Holger F. aus München. Dieser spätere Beklagte beschmierte eine Tür und landete vor dem Amtsgericht München wegen Schadenersatz. 

Der Zivilprozess heißt so, weil Zivilisten sich streiten! 

Die Regeln des Zivilprozesses kommen immer nur dann Anwendung, wenn sich Zivilisten untereinander streiten (also Unternehmen und Privatpersonen in Streit geraten). Die Rechtstradition ist lateinisch. “Civis” übersetzt bedeutet Bürger. Der Zivilprozess also gleich Bürgerprozess. Im Zivilprozess (ZPO) gilt zugleich der alte römische Satz weiter: “Da mihi factum, dabo tibi ius”.  Kläger und Beklagte sollen ausführlich und wahrheitsgemäß vortragen (§ 130, § 138 ZPO), da mit das Gericht den Prozess leiten und entscheiden kann  (§ 136 ZPO).

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Grundsatz des Zivilprozesses – der sogenannte Beibringungsgrundsatz

Der Beibringungsgrundsatz ist ein fundamentales Prinzip des deutschen Zivilprozesses. Der Beibringungsgrundsatz besagt, dass die Parteien eines Rechtsstreits selbst für die Darlegung und den Beweis der für sie günstigen Tatsachen verantwortlich sind. Das Gericht entscheidet dann ausschließlich auf Grundlage der von den Parteien vorgebrachten Tatsachen und Beweise. Das Gericht entscheidet also nach seiner Überzeugung und dem Vortrag der Parteien. Da mihi factum, dabo tibi ius – Gib mir die Tatsache(n), ich werde dir das (daraus folgende) Recht geben. Buchstäblich sitzt der Richter an seinem Tisch und wartet wie ein Gast in einem Überraschungslokal: Was legen einem Kellner oder Koch auf den Tisch? Das soll er durchkauen und dann entscheiden. Schmeckt oder schmeckt nicht? Also kann das Gericht abwarten, was die Parteien präsentieren an Vortrag und an Beweisen und dann eine Entscheidung treffen. Hier gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO (Beweislast und Co. wer gewinnt den Prozess?). Es kommt auf eine vernünftige Begründung an und auf die Überzeugung des Gerichts. Also entsteht die Gerichtsentscheidungen immer aus folgendem:

  1. Vortrag der Parteien, was schreiben Kläger und Beklagter an das Gericht?
  2. Beweise für den Vortrag, der Richter war nicht dabei, also muss ein Vortrag bewiesen werden.
  3. Gesetze für diesen Fall, was sagt das Gesetz zu dem Vortrag und den Beweisen

Einfache Beispiel eines Zivilprozess – Holger F., der Schmierfink, soll Schadenersatz zahlen

Holger F. aus München beschmiert am 14.03.2025 mit einer Sprühdose die Eingangstür der Firma “Schöne Waffen GmbH” mit dem Spruch “Ihr Wafffennarren! Macht doch lieber Liebe”. Die Reinigung kostet 75 Euro, die Holger F. nicht freiwillig zahlen will. Drei Personen (Hausmeister, ein Passant und die Freundin von Holger F.) haben die Tat beobachtet. Die “Schöne Waffen GmbH” muss nun alle den Anspruch begründenden Tatsachen darlegen. Die Zeugen können als Beweismittel genutzt werden, sodass dem Beibringungsgrundsatz Genüge getan wurde. Der mit der Klage befasste Richter beim Amtsgericht in München liest die Schriftsätze durch und nimmt zur Kenntnis, dass Holger F. leugnet, den Schaden verursacht zu haben. Holger F sagt, ich war am Tattag in Hamburg und habe dort gegen die andere Waffenfabrik “Böse Waffen GmbH” demonstriert. Er sei es nicht gewesen. Damit verstößt Holger F. allerdings gegen einen anderen Grundsatz, den Grundsatz der Wahrheitspflicht gem. § 138 I ZPO. Holger F. setzt sich hieraus weiteren zivilrechtlichen Haftungsansprüchen aus. Außerdem drohen strafrechtliche Ermittlungen wegen eines möglichen Prozessbetrugs. Das passiert aber leider regelmäßig und ist der Richter schon gewohnt. Kein Problem sagt der Richter sich: Dann frage ich in diesem Verfahren eben die Zeugen!

Die Zeugen sagen wahrheitsgemäß aus und bestätigen, dass sie Holger F. bei den Schmierereien beobachtet haben. Auch die Zeugen haben wahrheitsgemäß auszusagen, da sonst u.a. strafrechtliche Ermittlungen drohen, § 395 ZPO. Was tun, wenn Zeugen lügen? Der Richter nimmt das Gesetz und stellt fest, dass in § 823 BGB steht, dass derjenige, der eine fremde Sache beschädigt, Schadenersatz zahlen muss. Der würdigt die Zeugenaussagen (Beweise) und verurteilt den Holger F. dann zum Schadenersatz. Das Urteil ist wie folgt entstanden: Den Sachverhalt tragen die Parteien vor, die Beweismittel werden gewürdigt und dann kommt das Urteil nach Berücksichtigung der Rechtslage durch das Gericht.

Dr. Thomas Schulte im Gespräch – er wurde schon vor Jahrzehnten als Rechtsanwalt mit viel Prozesserfahrung empfohlen. Er tritt bundesweit vor Gerichten auf.

Was tun, wenn jemand mit der Entscheidung nicht einverstanden ist?

Meistens gibt es sogenannte Rechtsmittel (=gesetzliche vorgesehene Verfahren zur Anfechtung einer gerichtlichen Entscheidung). Die ZPO sieht in Fällen, in denen gegen ein Urteil vorgegangen werden soll, die Berufung (alles nochmals prüfen) oder die Revision (nur die Rechtslage nochmals prüfen) vor. Das heißt, es besteht meistens die Möglichkeit eine nächsthöhere Instanz anzurufen und dort die Entscheidung einer Überprüfung zuzuführen. Enttäuschungen über die Rechtslage sind selten. In unserem Beispiel mit dem Beklagten, der die Tür der Klägerseite beschmiert hat, ist es jedermann einsichtig, dass bei Sachbeschädigung die Reinigungskosten als Schadenersatz bezahlt werden muss. Bei komplexen Rechtsfragen ist das natürlich anders. Bei dem Ausgangsbeispiel ist die Rechtslage klar: Wer schmiert, muss zahlen. 

Wie entsteht Wut oder Enttäuschung über das Urteil?

Meistens sind Kläger oder Beklagte wütend, wenn der Sachverhalt vom Richter falsch erfasst wurde oder er nicht geschickt in der mündlichen Verhandlung agiert, oder wenn der Rechtsanwalt einen Fehler gemacht hat und so weiter. Oder die unterlegene Partei ist im Grunde wütend auf sich selbst, weil diese zu ungeschickt vorgetragen hat oder nicht genügend Beweise vorgelegt hat. 

Jetzt gibt es Enttäuschungen? Was tun, wenn der Anwalt versagt hat? 

Welche Pflichten hat das Gericht im Zivilprozess, die Beteiligten vor ihrer eigenen Dummheit oder Faulheit zu schützen? Wie viel muss erforscht werden und wie viel darf das Gericht laufen lassen?

Eine besondere Enttäuschung ist immer ein Überraschungsurteil oder ähnliches. Ein gutes Gerichtsverfahren endet mit einer gerechten Entscheidung, die auch die unterlegene Partei überzeugt, weil der Verfahrensablauf fair und transparent war. Das Ziel ist Gerechtigkeit. Was muss der Richter hierzu beitragen im Zivilprozess?  Was tun, wenn Rechtsanwalt, oder Partei etwas vergisst oder falsch einschätzt. Im Zivilprozess gilt bekanntlich: die Parteien beschaffen die Tatsachengrundlage und legen die Beweise vor. Der Richter würdigt diese Tatsachen und Beweise und urteilt dann. 

Was ist bei Beweisproblemen oder Vortrag, der nicht ausreichend ist? Überraschungsurteile

Beispiel: Die Firma “Schöne Waffen GmbH” als Klägerin möchte von dem Schmierfinken Schadenersatz und vergisst aber vorzutragen, dass die beschmierte Tür in dem Eigentum des Unternehmens steht. Damit ist etwas sehr Wichtiges vergessen worden zu erklären und der Richter könnte die Klage abweisen. Voraussetzung des Schadenersatzanspruchs ist, dass Eigentum der Beklagten beschädigt wurde. Der Richter prüft rechtlich und weist die Klage ab, weil er sagt: der Beklagte schuldet nur Schadenersatz, falls er das Eigentum der Klägerseite beschädigt (beschmiert) hat. Der Richter hält sich streng an den Grundsatz: Gebt mir die Tatsachen, ich gebe Euch das Recht. Die Tatsache, die zur Begründung des Schadensersatzes notwendig ist, wurde allerdings durch die Klägerin nicht vorgetragen. Dann gewinnt der Beklagte den Prozess durch Zufall, weil es im Klageschriftsatz nur hieß: Die Tür wurde beschädigt. Ist das dann gerecht? Nein, es war ein kleiner Irrtum auf Seiten der Klägerin, der hätte leicht klargestellt werden können. 

Hinweispflichten des Gerichts im Zivilprozess zur Vermeidung von Überraschungsurteilen

„139 Materielle Prozessleitung

(1) Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Es hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.

(2) Auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dasselbe gilt für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien.

(3) Das Gericht hat auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen.

(4) Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

(5) Ist einer Partei eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich, so soll auf ihren Antrag das Gericht eine Frist bestimmen, in der sie die Erklärung in einem Schriftsatz nachbringen kann.“

Die Regelung in § 139 ZPO verpflichtet also Gerichte, frühzeitig auf entscheidende rechtliche Aspekte hinzuweisen. Sie verhindert, dass eine Partei durch unvorhergesehene rechtliche Bewertungen oder überraschende Sachverhaltsannahmen benachteiligt wird.

Richterlicher Hinweis in dem Streitfall mit der beschmierten Tür

In dem Beispiel muss der Richter also einen richterlichen Hinweis geben und die Klägerseite auf folgendes aufmerksam machen: Die Klägerseite hat zu erklären, in wessen Eigentum die beschädigte Tür steht.  Daraufhin kann der Kläger klarstellen: Das habe ich vergessen, ich meine natürlich, dass die beschmierte Tür in meinem Eigentum steht, dies kann durch folgende Beweismittel bewiesen werden. Des Weiteren muss der Hinweis klar und nicht pauschal sein, also auf den konkreten fehlenden Sachvortrag hinweisen.

Wann sollen die Hinweise gegeben werden?

Dieser Hinweis des Gerichts soll möglichst früh gegeben werden und der früheste Termin wäre im schriftlichen Vorverfahren vor der mündlichen Verhandlung. Dieser Punkt kann in der mündlichen Verhandlung gegeben werden, weil dieser kleine Aspekt sofort korrigiert werden kann (dann muss der Hinweis aber in das Protokoll aufgenommen werden). 

Was ist in der mündlichen Verhandlung? Können da Hinweise gegeben werden?

Wenn das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen Hinweis erteilt, muss er protokolliert werden. Dann gilt in der mündlichen Verhandlung, dass das Gericht der betroffenen Partei eine genügende Gelegenheit zur Reaktion auf den Hinweis geben muss.  Dies kann durch kurze Unterbrechung der Verhandlung geschehen. Gegebenenfalls muss der betroffenen Partei ein Schriftsatznachlass gemäß § 139 Abs. 5 ZPO in Verbindung mit § 296 a S. 2 ZPO gewährt werden. Eine auf den Hinweis abgegebene Erklärung kann nicht gemäß § 296 ZPO als verspätet zurückgewiesen werden. Normalerweise soll nach der mündlichen Verhandlung Schluss sein mit weiteren Schriftsätzen. Das gilt also bei Hinweisen nicht. 

Wenn das Gericht merkt nach Schluss der mündlichen Verhandlung, dass ein Hinweis notwendig gewesen wäre?

Dann muss es die Verhandlung wieder eröffnen und einen Hinweis erteilen und notfalls erneut verhandeln. Es darf dann nicht einfach ein Urteil fällen. 

Was passiert, wenn Hinweise nicht gegeben werden oder zu spät? Was passiert, wenn das Gericht ein Überraschungsurteil fällt?

Eine Überaschungsentscheidung verstößt gegen Art. 103 I GG und ist somit verboten. Dann ist eine Berufung oder Revision besonders aussichtsreich. Weil solche Fehler im Sinne des § 546 ZPO in Berufung (§ 513 ZPO) oder Revision (§ 545 ZPO) von besonderer Bedeutung und diese Rechtsmittel erweitert ermöglichen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Hinweis nicht gegeben wurde oder nicht ordnungsgemäß dokumentiert wurde. Das hat zur Folge, dass das Rechtsmittelgericht bei entsprechender Verfahrensrüge von der Nichterteilung des Hinweises ausgehen und die Sache an das Ausgangsgericht zurückverweisen muss.  Ist eine Berufung nicht zulässig, so kommt auf eine Rüge der beschwerten Partei hin eine Fortführung des Rechtsstreits gemäß § 321a ZPO in Betracht.

Wie weit geht die Hinweispflicht?

Der Gesetzgeber möchte ein gerechtes Urteil zwischen den Bürgern erreichen. Der Richter soll aber neutral sein. Das Gericht soll Hinweis geben, wenn Parteien etwas offensichtlich vergessen haben. Das gilt immer und für alles: also für den Vortrag und Beweise der Parteien. Das Gericht muss allerdings keine Änderung des Parteivortrags herbeiführen, der auf eine Auswechslung des Streitgegenstandes hinausläuft.

Zusammenfassung

Ein faires Gerichtsverfahren braucht klare Regeln und Transparenz. Überraschungsurteile verletzen nicht nur die Erwartungen der Parteien, sondern auch grundlegende Rechte im Prozess. Deshalb verpflichtet die Zivilprozessordnung das Gericht, frühzeitig und klar Hinweise zu geben, wenn wichtige Tatsachen oder Beweise fehlen. So wird sichergestellt, dass jeder ausreichend Gelegenheit hat, seinen Standpunkt effektiv zu vertreten. Werden diese Hinweispflichten missachtet, können Entscheidungen aufgehoben werden. Letztlich dienen diese strengen Regeln dazu, dass jeder am Ende eines Prozesses – selbst im Falle einer Niederlage – das Urteil nachvollziehen und akzeptieren kann.

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 10630 vom 14. März 2025 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich