Recht und Gesetz

Ungenutzte US-Sammelklagen: Geld wird verschenkt

Deutsche Fondsmanager verschenken kontinuierlich Anlegerkapital. Die scheinbar provokante These hat einen einfachen und noch kaum beachteten Hintergrund: Ansprüche aus erfolgreichen Aktionärssammelklagen in den USA werden in Deutschland bislang gar nicht oder nur vereinzelt geltend gemacht – zum Schaden der Anleger. Dabei wäre die Realisierung rechtskräftig festgestellter Aktionärsforderungen durch effektive Beobachtung anhängiger Sammelklagen durchaus möglich. US-amerikanische Investment-Fonds sichern sich zu diesem Zweck schon länger systematisch ab.

Sammelklagen sind ein fester Bestandteil des Rechtssystems in den USA. In den so genannten Class Actions (eigentlich: Gruppenklagen) führt der Kläger den Rechtsstreit sowohl im eigenen Namen als auch stellvertretend für andere Personen, die in gleicher Weise wie er durch Handlungen der beklagten Partei einen Schaden erlitten haben. Die im Rahmen einer solchen Class Action aufgeworfenen Rechts- und Tatfragen werden dann einheitlich in Bezug auf die gesamte von dem streitigen Rechtsverhältnis erfasste Personengruppe geklärt. Der Prozess entfaltet also auch für Personen Rechtswirkungen, die sich der Klage nicht angeschlossen oder nicht einmal Kenntnis von ihr haben. Nach Regel 23 (a) der Federal Rules of Civil Procedure (dem der deutschen ZPO vergleichbaren US-Gesetz über den Zivilprozess) sind Sammelklagen möglich, wenn die klagebefugte Personengruppe so groß ist, dass eine Streitgenossenschaft unzweckmäßig ist und wenn sich dieselben Rechts- oder Tatfragen in Bezug auf alle Geschädigten stellen. Zudem müssen die Forderungen der klagenden Partei auch typisch für die Ansprüche der gesamten geschädigten Personengruppe sein. – Die klagende Partei muss also de facto eine Art Stellvertreterrolle für die gesamte betroffene Personengruppe einnehmen. Die Geschädigten können im Anschluss an ein erfolgreiches Urteil oder einen gerichtlichen Vergleich dann ihre Ansprüche geltend machen. Meist ist dazu nur ein Formular bei Gericht einzureichen (die so genannte Claim Form). Für mediale Aufmerksamkeit haben in Deutschland die Sammelklagen nikotingeschädigter Raucher gegen amerikanische Tabakkonzerne oder die Klagen von NS-Zwangsarbeitern gegen deutsche Unternehmen geführt.
Insbesondere Aktionäre verfolgen ihre Rechte immer wieder im Wege der Sammelklage. Erhoben werden sie zumeist von professionellen Investoren. Die ebenfalls geschädigten anderen Anleger können nach Urteilserlass oder Abschluss eines Vergleichs ihre Ansprüche in der beschriebenen Weise geltend machen. Class Actions im Kapitalmarktbereich sind möglich, wenn die Beklagten gegen US-Aktienrecht verstoßen haben und den Anlegern dadurch Schäden entstanden sind. Typische Fälle sind Fehlinformationen oder Bilanzfälschungen, durch die letztlich der Aktienkurs manipuliert wurde. Das Wertpapier muss außerdem an den US-Börsen gehandelt worden sein. Spektakulärstes Beispiel einer erfolgreichen Sammelklage war der Bilanzbetrug des US-Telefonunternehmens WorldCom.
Pro Jahr werden in den Vereinigten Staaten etwa 300 Aktionärssammelklagen erhoben. Die so erkämpften Summen belaufen sich jährlich auf mehrere Milliarden US-Dollar. Von besonderer Bedeutung sind diese Class Actions für amerikanische Fondsgesellschaften. Denn versäumt es das Management, selbst Klage zu erheben oder sich einer erfolgreichen Aktionärssammelklage anzuschließen, in der die Schädigung eigener börsengehandelter Fondsanteile festgestellt wurde, drohen Regressforderungen seitens der Gesellschafter. Um dieses Risiko zu minimieren, beauftragen Investmentgesellschaften zunehmend „Claims Manager“, also professionelle Dienstleister, die im Wege des so genannten „Legal Portfolio Monitoring“ sämtliche anhängigen Aktionärssammelklagen systematisch beobachten und auswerten. Die Prozessdaten werden mit den aktuellen und vergangenen Wertpapierbeständen der auftraggebenden Investmentfonds abgeglichen. Ergibt die Analyse, dass sich die Fondsgesellschaft einer Sammelklage anschließen kann, werden die Ansprüche berechnet und geltend gemacht. Häufig übernehmen spezialisierte Anwaltskanzleien diese Aufgabe.
Soweit deutsche Kapitalanlagegesellschaften an US-Börsen gehandelte Wertpapiere aufgelegt haben, dürften sie in gleicher Weise wie die US-Fonds eine Pflicht zur Beobachtung der Emittenten und zur Überwachung von Aktionärssammelklagen in den USA haben. Denn gemäß § 9 InvG hat die Kapitalanlagegesellschaft das Sondervermögen mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns zu verwalten und dabei ihre Tätigkeit mit der gebotenen Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit im besten Interesse der von ihr verwalteten Sondervermögen auszuüben. Bislang ist diese Rechtspflicht aber kaum registriert worden. Dies liegt zum einen daran, dass es praktisch keine Präzedenzfälle gibt. Selbst in den USA wurden Regressklagen gegen Fondgesellschaften nur vereinzelt und zumeist ohne Erfolg erhoben, weil die Fondsmanager den Sorgfaltsbeweis letztlich führen konnten. Zudem ist die Reichweite der Überwachungspflichten aus dem deutschen Investmentgesetz bisher ungeklärt: Müssen die in den USA anhängigen Sammelklagen lediglich beobachtet werden oder hat die Pflicht auch zum Inhalt, jedes dort emittierende Unternehmen an den Maßstäben des US-Börsenrechts zu überwachen und unter Umständen eine eigene Class Action anzustreben? Wenn ja: Mit welchen Mitteln soll diese Überwachung durchgeführt werden? Umfasst die „Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns“ bei der Verwaltung des Portfolios tatsächlich profunde Kenntnisseeiner fremden Kapitalmarktrechtsordnung? Ein weiterer Grund für das fehlende Bewusstsein für das Thema liegt wohl auch daran, dass die Sammelklage der deutschen Rechtsordnung noch immer unbekannt ist. Unser Prozessrecht kennt nur die Streitgenossenschaft, in deren Rahmen das Gericht mehrere Klagen aus Gründen der Zweckmäßigkeit miteinander verbindet sowie die Verbandsklage, die von Vereinen oder Interessengruppen erhoben werden kann. Letztere ist aber nur ausnahmsweise – so teilweise im öffentlichen Umweltrecht und im Wettbewerbsrecht – zulässig. Gleichwohl steht ein Gesinnungswandel des Kapitalmarktrechts und der Branche zu erwarten. Denn erstens sind aufmerksame Anleger in zunehmendem Maße für Versäumnisse vermeintlich kompetenter Fondsmanager sensibilisiert. Zweitens ist das Phänomen der Sammelklage geschädigter Kapitalanleger auch in Deutschland langsam auf dem Vormarsch. Einen ersten Vorstoß hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (KapMuG) gewagt: Jede Partei eines Rechtsstreits wegen unrichtiger öffentlicher Kapitalmarktinformationen kann einen Antrag auf Musterfeststellung des Vorliegens anspruchsbegründender Voraussetzungen oder bestimmter rechtsfragen beim Prozessgericht stellen. Ist der Antrag zulässig, wird er durch unanfechtbaren Beschluss in einem eigens dafür vorgesehenen Klageregister des elektronischen Bundesanzeigers bekannt gemacht. Mit der Bekanntmachung wird das Verfahren unterbrochen. Werden innerhalb von vier Monaten nach der Bekanntmachung in mindestens neun weiteren Verfahren gleichgerichtete Musterfeststellungsanträge in das Register eingetragen, führt das Prozessgericht, bei dem der erste Musterantrag gestellt wurde, einen Musterentscheid des ihm übergeordneten OLG herbei. Mit Bekanntmachung des Musterverfahrens vor dem OLG setzen die erstinstanzlichen Gerichte die Verfahren aus, die von den im Musterentscheid zu klärenden Rechtsfragen abhängen. Der Musterentscheid des OLG ergeht durch Beschluss und entfaltet sodann Bindungswirkung für die Entscheidung Prozessgerichte. Das KapMuG hat allerdings den Nachteil, dass die Betroffenen in jedem Fall selbst Klage erheben müssen. In jüngerer Zeit wird außerdem diskutiert, ob die im Jahr 2001 ausgeurteilte Parteifähigkeit der GbR Sammelklagen möglich macht: Gesellschaftszweck einer GbR aus geschädigten Anlegern wäre dann die gemeinsame Rechtsverfolgung mit dem Ziel des Schadensersatzes. Ob und unter welchen Umständen diese Variante der Sammelklage mit dem Rechtsberatungsgsetz vereinbar sind, ist allerdings noch offen. Die gesamte weitere Entwicklung auf diesem Gebiet bleibt jedenfalls mit Spannung abzuwarten.

Die Artikel Highlights

Empfehlung von Dr. Thomas Schulte wegen großer Erfahrung und erfolgreicher Prozessführung, z.B. Titelbeitrag im Magazin „Capital“, Ausgabe 07/2008.

Der Beitrag schildert die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erstellung. Internetpublikationen können nur einen ersten Hinweis geben und keine Rechtsberatung ersetzen.

Ein Beitrag aus unserer Reihe "So ist das Recht - rechtswissenschaftliche Publikationen von Dr. Schulte Rechtsanwalt" registriert bei DEUTSCHE NATIONALBIBLIOTHEK: ISSN 2363-6718
23. Jahrgang - Nr. 245 vom 23. Juni 2006 - Erscheinungsweise: täglich - wöchentlich