Schützt Unwissenheit doch vor Strafe? oder: Darf man sich 2013 auf anwaltlichen Rat blind verlassen? „Nazi-Lieder“ a la „Marschieren unter dem Krakenkreuz“ erlaubt, weil eine Anwältin dem Musiker einen Freibrief erteilt?
Volksverhetzende Lieder sind verboten. Der Beitrag behandelt die aktuelle Frage, ob ein Täter aufgrund einer Auskunft eines Anwalts als Experten straffrei bleibt.
Der alte römische Rechtsgrundsatz „Ignorantia legis non excusat“ ist im deutschen Sprachraum als Volksweisheit etabliert: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“. Natürlich ist im deutschen Recht alles extrem kompliziert.
Tatbestandsirrtum contra Verbotsirrtum
Grundfall ist folgender: Der Wirtshausgast nimmt irrtümlich einen falschen Mantel mit nach Hause. Ist er ein Dieb?
Bezieht sich die Unwissenheit auf die tatsächlichen Umstände, die den Tatbestand eines Strafgesetzes beziehen (zum Beispiel der Wirtshausgast greift versehentlich den falschen Mantel und nimmt ihn mit, weil dieser seinem eigenen Mantel ähnlich sieht), so handelt man nicht vorsätzlich (§ 16 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs – sogenannter Tatbestandsirrtum); es verbleibt einzig die Möglichkeit einer fahrlässigen Bestrafung, soweit der konkrete Tatbestand ausdrücklich eine fahrlässige Begehungsweise unter Strafe stellt (im obigen Beispiel nicht: straflos).
Variante: Ein Niederländer, der in Deutschland studiert, findet sein Fahrrad an der Uni nicht mehr, er nimmt einfach ein anderes, in dem Glauben, dass sei normal.
Bezieht sich die Unwissenheit dagegen auf eine rechtliche Wertung, das heißt irrt der Täter darüber, dass sein Verhalten in Deutschland gar nicht strafbar sei (zum Beispiel ein Ausländer meint, in Deutschland sei Bestechung wie in seinem Heimatland straflos und Teil der Wirtschaftskultur) oder durch einen (tatsächlich nicht existenten) Rechtfertigungsgrund gedeckt sei (zum Beispiel der Lehrer deckt, seine Ohrfeige an den Schüler sei durch ein Lehrer- Züchtigungsrecht gedeckt), so entfällt die Schuld und damit eine Strafbarkeit nur, wenn der Täter diesen Irrtum nicht vermeiden konnte (§ 17 Strafgesetzbuch – Verbotsirrtum).
Was ist ein volksverhetzendes Lied? – Maßstab der Vermeidbarkeit
Der Begriff der Vermeidbarkeit wird (vor allem im Kernstrafrecht entsprechend der Volksweisheit) sehr streng gesehen. Vermeidbar ist danach ein Verbotsirrtum nur dann, wenn der Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten bei Einsatz aller seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen zur Unrechtseinsicht hätte kommen können (Bundesgerichtshof, NStZ 2000, 307 [309]).
Darf ich das? Strafe vermeiden, Anwalt fragen!
In Zweifelsfällen hat der Täter fachkundigen Rat einer vertrauenswürdigen Person einzuholen. Verlässt er sich dann auf den Rat eines Rechtskundigen, den er für kompetenten genug halten durfte und der aus seiner Sicht durch die Auskunftserteilung keine Eigeninteressen verfolgt, so war der Irrtum für ihn grundsätzlich unvermeidbar (Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 17 Rn. 18).
Rechtsrat für zulässigen Inhalt von Medieninhalten
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof (Urteil vom 4.4.2013 – 3 StR 521/12) jüngst für den Fall konkretisiert, dass um die rechtliche Zulässigkeit des Inhalts eines Liedtextes auf einer zu verbreitenden CD gestritten wird: Ein Musikproduzent gab die Produktion einer CD mit politisch rechtsgerichteter Rockmusik in Auftrag, die in Deutschland vertrieben werden sollte. Wegen rechtlichen Zweifeln beauftragte er vorab eine Rechtsanwältin mit der Erstattung eines Gutachtens über die Zulässigkeit der Liedtexte, wobei die Rechtsanwältin derartige Gutachten bereits hundertfach erstattet hatte und hierbei als streng galt. Nachdem die Rechtsanwältin den Text des Liedes „Marschieren unter dem Krakenkreuz“ für unbedenklich eingestuft hatte, ließ der Produzent die CD entsprechend fertigen. Die Staatsanwaltschaft erblickt im Text eine Verbreitung von propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 Absatz 1 Nummer 4 Strafgesetzbuch).
Zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums betonte der Bundesgerichtshof, dass eine Auskunft nur dann als verlässlich anzusehen sei, „wenn sie objektiv, sorgfältig, verantwortungsbewusst und insbesondere nach pflichtgemäßer Prüfung der Sach- und Rechtslage erteilt worden ist“ und wenn die Auskunftsperson „die Gewähr für eine diesen Anforderungen entsprechende Auskunftserteilung bietet“. Wendet sich jemand „an einen auf dem betreffenden Rechtsgebiet versierten Anwalt, so hat er damit zwar vielfach das zunächst Gebotene getan. Jedoch ist weiter erforderlich, dass der Täter auf die Richtigkeit der Auskunft nach den für ihn erkennbaren Umständen vertrauen darf. Dies ist nicht der Fall, wenn die Unerlaubtheit des Tuns für ihn bei auch nur mäßiger Anspannung von Verstand und Gewissen leicht erkennbar ist. […] Insbesondere bei komplexen Sachverhalten und erkennbar schwierigen Rechtsfragen ist regelmäßig ein detailliertes, schriftliches Gutachten erforderlich, um einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zu begründen.“
Ein derartiges verlässliches Gutachten lag vorliegend vor, so dass der Bundesgerichtshof den Freispruch des Landgerichts bestätigte. Ein eher zur Absicherung statt zur Klärung bestelltes Gefälligkeitsgutachten hätte dagegen nicht ausgereicht (Bundesgerichtshof, Urteil vom 3.4.2008 – 3 StR 394/07). Somit bleibt die Frage: „Schützt Unwissenheit doch vor Strafe? oder: Darf man sich 2013 auf anwaltlichen Rat blind verlassen, weil wie in diesem Fall eine Anwältin dem Musiker einen Freibrief erteilt?“
Der vorstehende Text wurde verfasst von Prof. Dr. Erik Kraatz; Mitarbeit Dr. Thomas Schulte.